An artikel from the musicpaper "Sounds" okt. 74


Kraan: Versuch einer Musikbestimmung -

von Karl-Heinz Borchert

Barry Graves urteilte kurz aber prägnant: "Kraan ist heute so gut wie YES!" Der Co-Autor des RockLexikon bezieht sich dabei aber nicht auf den Stil, sondern auf die Geschlossenheit und musikalische Kommunikation innerhalb der Gruppe und die unglaubliche Präzision, mit der die einzelnen Musiker zusammenspielen. Bedenkt man, daß Yes erst kürzlich zur weltbesten RockBand gewählt wurde, mag es verwundern, gerade einen deutschen Rock-Ableger mit einer so reich ausgestatteten Gruppe verglichen zu sehen. Wer Kraan jedoch "live" erlebt, wird leidenschaftlich Graves' Worten zustimmen.

Etwa ein Jahr nach dem durchweg glänzend beurteilten (und gut verkauften) ersten Album erschien "Wintrup" im Sommer '73. Da die Gruppe eine sehr persönliche Musik spielt, die alle Erfahrungen und Einflüsse, denen die Musiker in der Zwischenzeit unterlagen, reflektiert, war es kein Kunststück, eine erhebliche stilistische Veränderung gegenüber dem Vorgänger vorauszusagen. Die Musik war klarer, durchschaubarer und songhafter geworden, überflüssiger Ballast abgeworfen. Zugunsten misgeklügelter, rockiger Arrangements waren die jazzigen Improvisationen ins Hintertreffen geraten. Vor ein paar Wochen nun erschien die 3. LP, die sich »Andy Nogger" nennt und (zumindest aus meiner Sicht) optimal den eigenwilligen Kraan-Stil verdeutlicht. Von den Schwierigkeiten, ihren Stil - ihre Musik - zu beschreiben, soll hier die Rede sein. Es wäre - wohl das Vorteilhaft este, die Gruppe selbst zu Wort kommen zu lassen, sagte ich mir und besuchte sie auf Wintrup, ihrem Gehöft am Rande des Teutoburger Waldes.

Improvisationen

Auf dem Hof halten sich ein paar Gäste auf: Zwei Musiker von Karthago und die Band Exmagma. Die ganze Nacht über wird mit ständig wechselnder Besetzung gejammt. Alle Kraan- Musiker sind sich, sowohl menschlich als auch musikalisch, seit vielen Jahren bekannt, ihre Session-Vorliebe ist daher nur zu verständlich. Jeder kann einsteigen, jeder neue Klangkörper wird begrüßt. Als am nächsten Morgen die Gäste verabschiedet sind, zieht Kraan sich nach und nach in den Proberaum zurück. Ohne jeden Zwang, ohne aufdringlich wirkende Organisation findet sich einer nach dem andern ein. Kurzes, lockeres Warmspielen und konzentriertes Arbeiten beginnt. Einer bringt die Idee mit, die dann kollektiv verarbeitet wird. (Allerdings unter der Leitung des Ideengebers.) Freiräume für breitgefächerte Improvisationen werden eingeplant und nach einigen Anläufen sitzt der Rohbau.

Speziell ihre Improvisationen halfen den Ruf, Kraan sei eine der perfektesten Live-Bands, zu festigen. Ungeheuer kompakt, exakt und in vollkommener Einheit gespielt, gehören sie zu den Höhepunkten eines jeden Konzertes. Um so erstaunter bin ich, als ich von Jan Fride, dem Schlagzeuger hören muß, daß seiner Meinungnach "schon lange nicht mehr improvisiert" würde. Er be klagt, weite Teile seien "festgelegt" und das freie Spiel werde dadurch "zu stark emgeschränkt". Aber es kommt noch deprimierter: "Lange ist es schon nicht mehr so, daß wir alle Dinge gemeinsam durchziehen, ob Filme, Musik oder was immer... Jeder hält sich meist in seinem Zimmer auf und geht eigenen Interessen nach. Das Schlimmste daran ist, daß keiner weiß, auf welcher Art Musik der andere momentan steht oder wie er sich sonst fühlt."

Die große, geraumige Küche dient nach wie vor als Treffpunkt, an dem sich alle 13 Wintrup-Bewohner (4 Musiker, der Manager, 2 Roadies, 3 Frauen, 3 Kinder und etliche Katzen und Hunde) meist aufhalten. Für die - Musiker der einzige Ort, - mit Ausnahme des Proberaums, an dem sie gemeinsam über Musik, aufgetretene Probleme und sonstige Neuigkeiten sprechen und diskutieren können. Im Gegensatz zu früheren Zeiten, scheint mir, wird von dieser Möglichikeit leider weit weniger Gebrauch gemacht. Überrascht muß ich jedoch feststellen, daß die Musik bisher absolut nichts von irgendwelchen Schwierigkeiten dieser Art spüren läßt. Die überragende Harmonie steht weiterhin im Vordergrund.

Als jch auf die, übrigens meist niveauvollen, Texte zu sprechen komme, die nach gruppeneigener Aussage zwar »eher sekundär" sind, werde ich schon nach der vierten Frage unterbrochen: »Wollen wir nicht über die Musik sprechen!?" Nun denn, okay! Frage: Ich setze voraus> daß z.B. Guru Guru ein typisch deutscher Rock-Vertreter ist (wobei sie mir zustimmen). Mit welchem Land könnte mari eure musikalischen Anschauungen in Verbindung bringen ? »Wir sind eine süddeutsche Band und in Deutschland geboren", antwortet Hellmut prompt. Auch nach einigen Bohrversuchen meineiseits ist keine tref fendere Antwort zu bekommen. Traurig deshalb, weil Jan im Verlauf des Gesprächs schon erwähnt hatte, daß sie »amerikanische Musik" machten oder sich zumindest nach Amerika orientierten. Der einleuchtende Grund dafür: "Die Neger sorgen dort für den Rhythmus. In England gibts doch keine einzige Band, die gute Percussion bringt!" - Also warum nicht gleich so. - Als ich den stark ausgeprägten Hang zum Rhythmus anspreche, bekomme ich eine ebenfalls (milde ausgedrückt) ausweichende Antwort: "Wir spielen alle ebenso gerne Schlagzeug wie unsere eigenen Instrumente>" und: "Wir haben früher viel mit Negern verkehrt!" Irgendwann einmal scheint die Gruppe schlechte Erfahrungen mit Leuten gemacht zu haben, die ihre Musik beschreiben wollten oder es wenigstens versuchten. Möglicherweise ist es auch eine selbstherauf- beschworene Angst.(bzw. der Komplex), sich nicht festlegen zu wollen. Schon vor einiger Zeit meinte Helimut, daß er die Erfahrung gemacht hätte, eine jeweilige Klassifizierung müßte immer in eine Sackgasse führen. "Du sperrst dich damit selbst in einen Käfig, aus dem du nur sehr schwer wieder rauskommst." (Und Hellmut zeichnet für mindestens 50 % des Kraan-Matenais und ihres Stils verantwortlich.) Alto versucht aber einzulenken: "Wir probieren möglichst viele Stihichtungen, die uns gefallen, reinzubringen." Der Einfachheit halber wirft Jan ein: "Schreib doch einfach wir spielen Wintrup-Musik!" (Obwohl Kraan in der Anfangszeit (Ulm-Berlin) nicht grundlegend anders klang als heute.)

"Wir wollen unseren Stil gar nicht definieren", betont Peter, "wir machen das eben so!"

Nichtsdestoweniger versuche ich es noch einmal. Stilmerkmale, die zumindest ich festgestellt habe, sind: ein über Hall und Oktavgerät gespieltes Saxophon, die überwiegend mit Vibrato und Tremolo gehandhabte Gitarre, die Rhythmusvorliebe aller und die traumwandlerisch sichere, zu einem Ganzen verschmolzene Rhythmusgruppe (bass/ drums). Wider alle Erwartungen folgt ein selbstsicheres "und das Bassolo!" aus dem Munde von Kraan. "Kein Baß- Solo ist wie ein Hattler'sches Baß-Solo!" Gibt es nun doch objektiv feststellbare Stilmerkmale (das Baß-Solo bleibt weitgehend Live-Auftritten vorbehalten) und eine, anfangs schon erwähnt, mit viel Mühe erarbeitete Stilbeschreibung? (Oder was? )

Während des Gesprächs taucht in meinem Kopf öfter der Kraan-Spruch auf: "Wir machen uns wenig Gedanken darüber, was für eine Musik wir machen oder warum wir sie machen." Es wäre vielleicht ganz ratsam, sich mal zusammenzusetzen, um gemeinsam (wenigstens) die anfallenden Kernfragen durchzusprechen. Die weitgehend fast legendäre Kraan-Devise: "Wenn in der Küche alles stimmt, geht auch die Musik in Ordnung", sollte vielleicht ebenfalls neu formuliert werden. Hat sich die Situation in der Küche in den letzten Monaten doch erheblich gewandelt. Daß ich trotz dieser scheinbaren Widersprüche und "Mangelerscheinungen" mit voller Breite hinter ihnen stehe, ist schnell erklärt. All diese Dinge sind scheinbar an der Musik spurlos vorübergegangen; sie ist nach wie vor eigenwillig, überaus interessant und leicht an jedem internationalen Maßstab zu messen.

Kritiker

Da ich nicht einsehen kann und will, daß nicht auch die außergewöhnlichste Gruppe ihre ureigensten Probleme besitzt, gibt es genausowenig einen Grund, sie nicht zu erwähnen. Ab und zu liest man zwar von Total-Verrissen, meist sind es aber ungetrübte FanArtikel (wie aüch immer motiviert), die man zu Gesicht bekommt. Ganz offensichtlich scheint sich die internationale Szene also sonnig und heiter in allen Bereichen zu geben. Daß die hier angesprochenen Probleme den betroffenen Gruppen nicht besonders publizitätswürdig erscheinen dürften, steht fest. Soll man sie deshalb aber unter den Tisch fallen lassen? Es liegt auf der Hand, daß Kraan gegen Ende des Gesprächs auf den Berufszweig "Kritiker" zu sprechen kommt.

"Es ist eine Anmaßung, ein Urteil über Musik abzugeben", empört sich Hellmut, schwächt aber sofort ab: "Es rnuß ja nicht unbedingt die Musik sein..." Aber über was sollen die lieben Leute sonst schreiben, wenn nicht über Musik - dem Hauptmerkmal zur Unterscheidung aller Formationen!? Natürlich gibt es da den Weg des Personenkultes, was aber speziell am Beispiel Kraan auf noch krassere Ablehnung stoßen dürfte. ("Wir wollen in erster Linie Musiker sein und nichts mit dem ganzen Rummel und den Verflechtungen der Plattenindustrie zu schaffen haben".) Oder soll man stattdessen doch ausschließlich die zum Himmel schreienden Presse-Mappen der Plattenfirmen abdrucken, ohne die geringsten Abstriche vorgenommen oder eine persönliche Einschätzung fallen gelassen zu haben? Denn daß Kritik notwendigerweise subjektiv ausfallen muß, sollte auch dem letzten Zweifler inzwischen klar sein. Eine Plattenkritik, die sich auf Notenabdruck oder nackte Produktionsfakten beschränkt, dürfte mit Sicherheit weder der Musik, ihren Machern, noch den Lesern dienlich sein. Kurz gesagt: Kein Mensch würde sie lesen! Jede Band sollte aber darauf bedacht sein, ihre Musik unter die Leute zu bringen. Bleibt nur der Weg über Rezensionen und Beurteilungen nach persönlicher Einschätzung sogenannter Kritiker. Ein rein wissenschaftliches Urteil befriedigt keinen, und auch Hellmut gibt zu, daß er keine Musik machen würde, die allein auf Musiker (sprich Fachleute) ausgerichtet wäre. Trotzdem bleibt er dabei, daß es "immer falsch" sei, Urteile abzugeben, da Kritiker von Erfahrungen ausgingen, "die SIE gemacht haben", die auf die jeweilige Gruppe projiziert würden, aber "zu 99 % nicht zutreffend" seien.

"Um eben Kritiken zu vermeiden, sitzen wir ja hier", beendet Jan das Gespräch, "und wenn wir nichts Richtiges erzählen können, haben wir eben Pech gehabt"! So einfach ist's, dem Himmel sei Dank, nun doch nicht! Es gibt da ja noch - die Musik! (Die allerdings wieder beurteilt werden müßte...) Und sollte ich auch besser nichts(darüber) berichten, kann ich mir's doch nicht verkneifen, allen, die Kraan noch nicht kennen, wärmstens zu empfehlen, einen der überragenden, wahnsinnigen, superheißen Auftritte (ganz schön subjektiv, was? ) der Band zu besuchen oder ganz einfach in eine ihrer drei absolut tierischen, vor Spielfreude und Musikalität strotzenden Scheiben reinzuhören.